Berliner Debatte Initial 2 | 2003

Ostdeutschlandforschung Wende oder Ende

Herausgeber: Scott Gissendanner

128 Seiten

Ostdeutschland war für seine Bürger wie auch seine sozial- und kulturwissenschaftlichen Beobachter wohl immer nur dann interessant, wenn das Land historisch bedeutsame politische und soziale Veränderungen erlebte. Das betrifft zuerst die 1950er Jahre, als sich die DDR mit dem Experiment Sozialismus noch als glaubhafte Alternative zum westlichen Kapitalismus präsentieren konnte. „Der Staat besteht nur, wenn etwas in ihm vorgeht, und immer was Neues“, so der freche, immer etwas genüsslich provozierende Bauarbeiter Paul Bauch, Volker Brauns Anti-Held in Die Kipper (1963). „Die ganze Attraktion dieses Gebildes ist, dass es sich verändert. Das, glaub ich, war’s, was mich an dem Land kleben ließ: dass es ein andres wurde, wenn ich in kein andres fortging.“ Nachdem die Mauer dem Sozialismusprojekt seinen experimentellen Charakter genommen hatte, war es mit der Spannung vorbei. Und Bauch klagt ob der einsetzenden Stagnation: „Das ist das langweiligste Land der Erde!“ Mit der DDR hinter der Mauer wussten auch die meisten westlichen Sozialwissenschaftler wenig anzufangen, als Forschungsgegenstand war sie weder Fisch noch Fleisch. Für Sowjetologen lag sie an der Peripherie des Imperiums, für Deutschlandforscher war Westdeutschland attraktiver und zugänglicher, und für die westlich orientierten Sozialwissenschaften hatte das stagnierende staatssozialistische Gebilde wenig interessantes zu bieten. Lediglich bei Literaturwissenschaftlern fand sie noch nennenswerte Aufmerksamkeit. Erst die Wende im Herbst 1989 machte Ostdeutschland wieder politisch spannend und wissenschaftlich anschlussfähig und interessant. 

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